Mittwoch, 18. November 2015

Kopfschuss



Gawijn Seghers
Koppain


10. Juli '99

Hallo, ich bin Gawijn. Man nennt mich Koppain. Das habe ich von Kurt Cobain und meinem Vater. Sie haben sich beide in den Kopf geschossen. Ich sage es lieber gleich, damit ihr es nicht von anderer Seite zu hören bekommt. Cobain hatte zu viel Erfolg mit seiner Band, mein Vater zu wenig. Das scheint an einem Menschen zu nagen, dieses Zuviel oder Zuwenig. Niemals zu, sagt Oma immer, nur zufrieden.
Ich habe alles von Nirvana. Geerbt von meinem Vater. Mein Bruder Arthur "verwaltet" den Rest, wie er es auf typisch "brüderliche" Art erklärt. Typisch der Älteste, wenn ihr mich fragt. Ansonsten kommen wir ausgezeichnet miteinander klar. Zumindest was Atlantis betrifft. Atlantis ist unsere Geheimgesellschaft. "Us against the world", könnte man sagen. Manchmal fühle ich mich genauso untergegangen wie Atlantis, ich meine jetzt diese versunkene Stadt. Mam auch. In den drei Jahren, die sie inzwischen allein ist, berührte sie regelmäßig den Grund. Dann trinkt sie zu viel. Als wollte sie ihren Kummer in eine Flasche stopfen und auf die sieben Weltmeere schicken. Bis jemand ihre verzweifelte Botschaft herausfischt und sie von ihrer Insel holt. Leider ist sie der Ansicht, dass sie dafür erst die gesamte Flasche leeren muss. Mam! Oma sagt, wenn das so weitergeht, wird Mam es nicht mehr lange machen. "Wenn man einen Autounfall hat, muss man sich am nächsten Tag gleich wieder ans Steuer setzen, sonst fährt man für den Rest seines Lebens nicht mehr." Oma ist hart drauf, vor allem wenn es um andere geht. Oma hat den Krieg mitgemacht. Hätte ich den bloß auch mitgemacht. Dann säße ich jetzt nicht hier und würde wie ein Softie schreiben. Dann würde ich vielleicht einen schwarzen Gürtel im Judo machen und das Leben selbst in der ersten Runde zu Boden werfen. Volle Punktzahl! Mam erlaubt es mir nicht. Sie hat schon mal einen Menschen wegen "dummen Zeugs" verloren, nicht noch einen zweiten. Mam, Judo ist kein "dummes Zeug", Judo ist japanisch für "sanfter Weg", Judo ist Selbstdisziplin, Judo steht für die Ausbildung eines stählernen Charakters, Judo ist alles, was ich nicht bin. Ich muss Sport treiben.
Fühle mich heute schrecklich down. Mens insana in corpore insano, eine kranke Seele in einem kranken Körper. Ich habe irgendwo gelesen, dass man vom Dauerlaufen einen Kick kriegt, der wie ein Schuss ist, aber dann einer, von dem man nicht ausflippt. Serotonin, ein Opiumderivat, wird bei einer regelmäßigen, ausdauernden und intensiven Anstrengung vom Gehirn auf natürliche Weise hergestellt. Hilfe, Jogger sind auch schon drogenabhängig! Vielleicht ist ja jeder von irgendetwas abhängig: Schokolade, Kaffee, Briefmarken, Tropenfische, Kakteen, Eiershampoo, am Tisch rülpsen (Oma!), an den eigenen Fürzen riechen... (wenn ich das Kleinkind raushängen lasse, fühle ich mich schlagartig besser). Oder Macht und Geld. Die scheinen mir noch am gefährlichsten zu sein, denn man hat nicht den Eindruck, sie seien ungesund oder die Gesellschaft lehne sie ab, im Gegenteil. Es ist nur eine Frage der rechtzeitigen Wahrnehmung. Dann kann man immer noch auf die Bremse treten. Ich glaube, ich bin von Musik abhängig. Genau wie mein Vater. Ich weiß nicht, ob er jemals Drogen genommen hat. Früher vielleicht, hier und da mal einen Joint; in den letzten Jahren rauchte er nicht mehr. Mam hat nie darüber gesprochen. Wenn er von Dope abhängig gewesen wäre, dann hätte sie es bestimmt gesagt. Sie stand seinen wilden Plänen nie positiv gegenüber, und trotzdem vermisst sie ihn jetzt so, dass sie allmählich daran kaputtgeht. Oder ist es, weil es ihr Leid tut, dass sie ihn nie wirklich in seinen Ambitionen unterstützt hat? Dirk, ich sollte Dirk sagen und nicht Papa - Mam wollte davon nichts wissen, ich habe sie einer paarmal Roos genannt und mir damit Ohrfeigen eingehandelt -, Dirk wollte die Welt mit seiner Musik erobern. "Meine Musik ist mein Schwert!" Und windmühlenflügelschwingend mähte er Arthur und mich mit Excalibur um. "Windmühlenflügelschwingend mähte er mit Excalibur", ist das anschaulich genug? Stael, mein Niederländischlehrer, sagt, ich habe zwar durchaus ein Talent zum Schreiben, aber mein Stil leide an metaphorischer Blutarmut. "Bildsprache ist das Blut der Literatur, Seghers!" Ich mag keine Bildsprache. Bildsprache ain't cool. Wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich es ohne Umwege.
Ich schweife ab. Darin bin ich gut. Schon seit meinem fünften Lebensjahr, als ich einmal für ein paar Stunden verschwunden war. Ich war mit meinem Dreirad davongefahren. Ab auf den Radweg und hinaus in die weite Welt. Dirk hat mich nur ein einziges Mal geschlagen. Das war dieses Mal. Am nächsten Tag hatte ich einen blauen Hintern, sagt Arthur; ich selbst weiß davon nicht mehr viel. Will ich nicht mehr wissen, sagt er. Und dass ich nur behalte, was ich auch behalten will. Ein selektives Gedächtnis. Ich wünschte, das wäre wahr.
     See you tomorrow or one of these days, if I don't forget.

- Danny Verstegen, "Kopfschuss", erschienen im Bertelsmann Taschenbuchverlag (cbt)
ISBN 3-570-30238-5


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"Kopfschuss" habe ich das erste Mal mit 15 oder 16 gelesen und es hat mich daraufhin ein ganzes Stück meiner Schulzeit begleitet. Es bietet neben dem Leben des 15 jährigen Gawijn und seiner altersgemäßen psychologischen Selbstanalyse, auch einen Einblick in die Jugendkultur und Lebensweisen vom Belgien der späten 90er Jahre. Jetzt wird sich der ein oder andere vielleicht denken: "Belgien? Und nun? Wen juckt das!" - aber genau das ist der Anreiz. Ein (kleines) Land im Herzen Europas, über das man erstaunlich wenig weiß.
Dazu kommt das generelle "Grunge"-Feeling der Generation Nirvana, gepaart mit den ersten Erfahrungen der Liebe.
Wer sich mit einem eigentümlichen Schreibstil und zahlreichen Gedankensprüngen und Abschweifungen anfreunden kann, der sollte sich dieses Buch auf jeden Fall einmal durchlesen.
Es bleibt natürlich Jugendliteratur, eine leichte Kost, aber darüber hinaus bietet es - wie ich finde - noch viel mehr, wenn man sich erlaubt ein wenig darin aufzugehen.

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